In Memoriam Christel Eidner (1938 -2021)
Im Jahr 1974 habe ich angefangen, Französisch zu lernen und meine Lehrerin in der damaligen Klasse 7D an der Diltheyschule war Frau Eidner.
Wenige Wochen nach den Sommerferien kam sie eines Tages in die Klasse und kicherte ein bisschen. Wir schauten sie erstaunt an, und sie erzählte uns, dass ihr gerade ein kleines Missgeschick passiert war: An ihrer rehbraunen Wildlederhose war der Reißverschluss geplatzt, den diese, nun ja, an der Rückseite hatte. Und gerade in dem Moment war ihr der Chef, unser Schulleiter Dr. Roeske, entgegengekommen. Sie hatte sich im Flur an die Wand gedrückt und so gut es ging, den gleichfalls rehbraunen Blazer um sich gezogen…
Ich staunte. Eine Lehrerin erzählte uns von einem für sie eher peinlichen Moment und lachte dabei – über die Situation, über sich selbst, und mit uns. Für meine strenge Mutter, selbst Pädagogin, waren Lehrer und Lehrerinnen eher so etwas wie Halbgötter vom Olymp, hehre, allwissende Wesen, Damen und Herren ohne Unterleib. Diese hier war eindeutig anders.
Und so begann unsere gemeinsame Geschichte, die bis zum Abitur und darüber hinaus dauerte. Später wurde Frau Eidner unsere Englisch- und Klassenlehrerin und in der Oberstufe meine Tutorin. Viele besondere Momente habe ich mit ihr erlebt – etwa, als einmal ein Klassenkamerad sehr wütend auf mich war und sie sich schützend zwischen ihn und mich stellte. „Ich dachte, jetzt klebt er mir eine“, gestand sie mir nachher. Oder als ich eine Hausaufgabe vorlas, die ich gar nicht gemacht hatte, und sie mich dabei erwischte. Oder als ich auf Klassenfahrt in Rom am zweiten Tag mein ganzes Geld ausgegeben hatte – für einen wunderbaren Walfisch aus Muranoglas – und sie mir Geld lieh, damit ich mir noch Mittagessen kaufen konnte. Oder…
Frau Eidner war – so habe ich sie wahrgenommen – lustig, empathisch und vor allem authentisch. Sie zeigte sich – auch mit ihren Macken und Schrullen. Sie war nahbar, ohne sich anzubiedern oder kumpelig zu sein. Ihr Unterricht war ernsthaft und fordernd, wir lasen Shakespeare und Oscar Wilde, aber wir gingen auch – es waren die Siebziger – zusammen ins Café, oder sie erzählte uns von ihrem Silberpudel.
Als Lehrer und Lehrerinnen haben wir oft das Gefühl, keinen besonders tiefen Eindruck bei unseren Schülerinnen und Schülern zu hinterlassen. Sind nicht andere viel wichtiger für deren Entwicklung, die Eltern und Geschwister, die Gleichaltrigen? Das liegt daran, dass wir selten erfahren, was für einen Eindruck wir auf die Jugendlichen gemacht haben. Es heißt aber nicht, dass wir nicht trotzdem eine Spur in ihrem Leben hinterlassen.
Für mich jedenfalls war Frau Eidner eine Inspiration, als Lehrerin, als selbständige, unabhängige Frau, als gütiger, liebevoller Mensch. Nachdem sie pensioniert war, hat sie im Wiesbadener Jugendgefängnis jungen Männern geholfen, ihren Hauptschulabschluss nachzuholen. Sie muss das so gut gemacht haben, dass man ihr anbot, an einer Weiterbildung zur Anti- Aggressionstrainerin teilzunehmen. Sie sagte zu. Und so stelle ich mir meine ehemalige Französischlehrerin in einem Kreis wilder, muskelbepackter Kerle mit Tattoos vor, wie sie ihnen klar und freundlich aufzeigt, wie zivilisiertes Benehmen geht.
Ich bin sicher, auch von denen erinnern sich noch einige an sie.
Claudia Oedekoven