…und erleben, dass Geschichten, die vor über 2000 Jahren erdichtet wurden, noch immer von bisweilen erschütternder Aktualität sind!

Die Leistungskurse Latein und Griechisch besuchten am 6. Februar in der Wartburg, der kleinsten Dependance des Wiesbadener Staatstheaters, die Aufführung „Der Fall Medea“. Drei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler verknüpften auf eindrückliche Weise den antiken Stoff der Zauberin Medea, die ihre eigenen Kinder umbringt, mit einem Kriminalfall aus dem Jahre 1999. Euripides hatte im 5. Jh. v. Chr. als erster eine Tragödie aus dieser Geschichte geschrieben, und seitdem ist der Stoff unzählige Male durch alle Zeiten hindurch weiterverarbeitet, neu durchdacht sowie in Kunst, Literatur und Musik spannend rezipiert worden. Verwandelt man den Wikipedia-Artikel zum Stichwort Medea in ein Word-Dokument, so hat dieses 54 Seiten!

Lustig oder heiter waren diese zwei Stunden am Montagmorgen gewiss nicht: Im Nachgespräch nach ihren Empfindungen gefragt, nannten die jungen Erwachsenen Adjektive wie „düster“, „neblig“, „aggressiv“, „erschütternd“.

Mutter, Ehefrau, Betrogene, Heimatlose, Königstochter, Zauberin, Mörderin: All das ist Medea. Kaum eine Frauengestalt der Antike ist zugleich unheimlicher und faszinierender als sie. Eine Frau, die sich nicht stumm ihrem Schicksal ergibt, sondern vor Wut tobt und, von tiefem Schmerz geleitet, sich an ihren Peinigern rächt – auch wenn dies bedeutet, die eigenen Kinder zu töten. Doch kann ein Schmerz groß genug sein, um als Mutter die eigenen Kinder zu töten? Alles nur ein alter Mythos? Die Kriminologie sagt: Nein. Es gibt Geschichten wie die von Helga, die über Jahre derart tiefe Verletzungen und Schmerzen erlitten hat, dass sie sich nach langem Abwägen dafür entschieden hat, sich selbst und ihre Kinder zu töten. Vor der Tat schrieb sie einen Abschiedsbrief. Die junge Regisseurin Sophia Aurich verbindet den antiken Medea-Mythos mit einem wahren Kriminalfall zu einem schonungslosen Psychogramm einer Frau.

Es dauerte ein Weilchen, bevor nach dem Stück der Applaus einsetzte. Mit sehr ernsten Mienen traten die Schauspielerinnen und Schauspieler vor das Publikum, als seien sie noch immer in ihrer jeweiligen Rolle verblieben.

Das sich anschließende Gespräch mit den Darstellenden war befreiend. Nun konnten wir auf der sachlichen Ebene noch einmal hören, wie es zu diesem Stück und den interessanten Verknüpfungen der beiden Erzählstränge gekommen ist oder was sich Dramaturgin und Regisseurin bei der Gestaltung des Bühnenbildes gedacht haben. Die Schülerinnen und Schüler stellten viele Fragen, die alle mit großem Wohlwollen beantwortet wurden.

Und draußen vor der Tür begrüßte uns die strahlende Sonne mit blauem Himmel. Wir waren wieder in unserer Gegenwart angekommen.

Dagmar Thimme

Fotoquelle: Materialmappe des Staatstheaters zu „Der Fall Medea“